EU Stories
EU Stories
Die nervige Brexit-Show, reichlich Bürokratie und die oder andere Entscheidung, die man als Bürgerin und Bürger mitunter nicht so recht nachvollziehen kann: Die Europäische Union und ihre Institutionen sind sicher nicht perfekt. Dennoch ist die Staatengemeinschaft einzigartig, steht für Frieden, Freiheit, Demokratie und die Wahrung der Menschenrechte. Wir haben sechs Mal nachgefragt: Was ist deine persönliche Europa-Geschichte?
Was tun? Was tun!
Den Anstoß, sich aktiv für die Europäische Union einzusetzen, gab Antonia ein Seminar an der Uni. „Wir sind für ein paar Tage nach Brüssel gereist und haben uns dort die europäischen Institutionen angesehen, kamen ins Gespräch mit Pressesprechern und Abgeordneten und haben bis spät zusammengesessen und über den Brexit diskutiert.“
Nach der Reise wusste die 22-Jährige zwei Dinge: Die EU ist unfassbar wichtig und sie möchte sich aktiv für sie engagieren. Also suchte sie im Netz nach Möglichkeiten und stieß ziemlich schnell auf die Kampagne „Diesmal wähle ich!“ des Europäischen Parlaments. Da es in Wuppertal – hier studiert Antonia Politik- und Wirtschaftswissenschaften – allerdings noch keine regionale Gruppe gab, beschloss sie kurzerhand, eine eigene zu gründen. Mittlerweile teilt sich Antonia die Verantwortung mit drei anderen Teamleitern und organisiert Treffen sowie Podiumsdiskussionen zu Themen wie Artikel 13 (EU-Urheberrechtsreform) und dem Klimawandel.
Besonders begeistert sie die bunte Mischung der Gruppe. „Hier sind neben Studenten auch Azubis, Rentner oder Familienväter dabei. Irgendwie ist jeder aus einem anderen Grund da und doch auch irgendwie aus demselben. Das spricht ja auch für Europa: in Vielfalt geeint.“ Am liebsten kommt sie bei Straßenaktionen der Kampagne mit Bürgerinnen und Bürgern unterschiedlicher Meinungen ins Gespräch. „Ich denke, dass es wichtig ist, den Menschen zuzuhören und auf ihre Ängste einzugehen, vor allem im Hinblick auf den beinahe perfekt funktionierenden Populismus in vermeintlich aufgeklärten Nationen. Populismus und instrumentalisierte Angst nähren das rechte Gedankengut. Wir sollten die Leute für ihre Haltung nicht verurteilen, sondern versuchen, sie aufzuklären.“
Wenn Antonia an Europa denkt, fallen ihr als erstes die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Solidarität“ ein. „Wir erleben gerade die längste Friedensperiode in Europa, zumindest in Kernstaaten. Die meisten Europäer wissen gar nicht, wie sich Krieg anfühlt und das haben wir nicht zuletzt auch der EU zu verdanken.“ Daneben schätzt sie den Binnenmarkt, die beinahe in allen Staaten einheitliche Währung und die offenen Grenzen. „Ich komme aus Düsseldorf und als Kind war es normal für mich, am Wochenende mit meiner Oma ins niederländische Venlo zu fahren, um eine Packung Vla zu kaufen.
Es sind die Kleinigkeiten, die die EU für mich ausmachen.“ Antonia sieht es als großes Privileg an, am 26. Mai wählen zu dürfen. „Die Jugend ist näher an der Politik als je zuvor. Das Wichtige ist jetzt, dass auch verstanden wird, dass man nicht nur etwas verändern kann, wenn man auf die Straße geht und demonstriert, sondern auch, indem man im Mai sein Kreuzchen setzt.“
Die jüngste deutsche Abgeordnete im EU-Parlament
Europa ist ein Thema, das Terry Reintke besonders am Herzen liegt und darum möchte die junge Grünen-Polikerin es aktiv mitgestalten. Terry, die eigentlich Theresa heißt, verbrachte schon in ihrer Schulzeit ein halbes Jahr in England. Während ihres Studiums der Politikwissenschaft in Berlin zog es sie für ein Erasmus-Jahr ins schottische Edinburgh. Die 31-Jährige findet: Großbritannien gehört zu einem starken Europa dazu. Darum war die Brexit-Abstimmung für sie ein wirklich trauriges Ereignis.
Terry kommt aus dem Ruhrgebiet und war schon früh als politische Aktivistin auf der Straße. Bereits im Alter von 14 Jahren gründete sie eine Basisgruppe der Grünen Jugend. Einen Schwerpunkt bildeten schon damals Frauen- und Genderthemen. Von 2008 bis 2009 war sie Frauen- und genderpolitische Sprecherin im Bundesvorstand der Grünen Jugend. Terry, die sich selbst als Feministin bezeichnet, setzt sich auch heute noch besonders stark für Frauenrechte und Chancengleichheit ein. So engagierte sie sich auch gegen sexuelle Belästigung und Gewalt im Europäischen Parlament. Darüber hinaus kämpft sie für die Rechte von LGBTI-Menschen, Randgruppen und Flüchtlingen.
Seit 2014 ist Terry Abgeordnete der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament und war damals im Alter von 26 Jahren die jüngste Abgeordnete im Haus.
Der Kreuzworträtselliebhaberin ist es ein großes Anliegen, die Regionen Europas zu stärken. Darum reist sie auch häufig in andere Mitgliedstaaten, um sich einen besseren Eindruck von der Situation vor Ort zu verschaffen. Terry sagt, dass sie sich eher als europäische, denn als deutsche Abgeordnete verstehe. Und dieses Selbstverständnis spiegelt sich auch in ihrer Idee von Europa wider: Einheit in Vielfalt.
Brüssel hautnah
Katarina lernte es schon früh zu schätzen, wie unbeschwert man innerhalb der Europäischen Union reisen kann. Sie kommt aus Kärnten, im Süden Österreichs, und fuhr in ihrer Kindheit oft mit ihrer Familie mal kurz ins benachbarte Italien, um dort zu Mittag zu essen. „Ich denke, dass uns oft einfach nicht bewusst ist, was es bedeutet, Teil der Europäischen Union zu sein, und welche Vorteile das mit sich bringt.“ Wie schon ihre Großeltern und Eltern wollte auch Katarina eine Zeit im Ausland verbringen und entschied sich für ein Erasmussemester im italienischen Siena. Diese Erfahrung zeigte ihr, was die EU für sie im Kern bedeutet: „Danach habe ich mich nicht mehr nur als Österreicherin gefühlt, sondern als Europäerin.“
Katarina fand Freunde aus vielen anderen EU-Staaten und war besonders von der kulturellen Vielfalt begeistert. „Europa ist eine Art Mosaik, das viele Kulturen miteinander vereint, die dann zusammen ein großes Gesamtbild ergeben.“
Nach ihrem Auslandssemester war der Publizistik-Studentin klar, dass sie noch ein weiteres EU-Land erkunden wollte und bewarb sich für das Robert-Schuman-Praktikum für Journalisten im Europäischen Parlament. Inzwischen arbeitet sie dort seit gut fünf Monaten in der Webkommunikation, verfasst Artikel für die Webseite des Parlaments und kümmert sich um die Social Media-Kanäle. Der 26-Jährigen gefällt die Arbeit so gut, dass sie in Brüssel bleiben möchte. „Ich wollte immer einen Beruf mit einem höheren Ziel ausüben, und ich denke, dass ich das hier gefunden habe.“
Entwicklungen, die sie in Europa besorgniserregend findet, sind die sozialen Ungleichheiten zwischen Zentraleuropa einerseits und Ost- und Südeuropa andererseits. Hinzu komme die Unwissenheit vieler Bürgerinnen und Bürger im Hinblick auf politische Entscheidungsprozesse, was auch der Brexit veranschauliche. „Viele übernehmen unüberlegt und unfundiert die Meinungen anderer. Ich denke, dass hier ein guter, gezielter Journalismus helfen könnte, um die Menschen besser zu informieren.“
Katarina ist fest davon überzeugt, dass jeder Bürger einen guten Grund habe, am 26. Mai wählen zu gehen. Sei es das unbeschwerte Reisen und damit verbunden die vielfältigen Möglichkeiten, im europäischen Ausland zu arbeiten. Oder aber auch die strengen EU-Standards bezüglich des Trinkwassers oder der Lebensmittel, die uns im Alltag Sicherheit gewähren. „Ich denke, dass wir wählen sollten, weil wir alle gemeinsam etwas erreichen können, zum Beispiel im Hinblick auf den Klimaschutz. Wir sind jung und können noch etwas an der Zukunft ändern. Aber wer weiß, wie es für unsere Kinder und Enkelkinder aussehen wird, wenn wir jetzt nicht handeln.“
Europe in love
Diese großen grünen Augen! Als Dario Lauren das erste Mal sah, war ihm das Blau des Mittelmeers plötzlich herzlich egal. Beide hatten unabhängig voneinander einen Feier-Trip nach Ibiza gebucht – gefunkt hatte es aber eigentlich schon während der Preparty auf dem Deck der Fähre. Zurück auf dem Festland war klar: weiter daten. Erst nur am Wochenende, dann auch unter der Woche, später war er nur noch selten in seinem ranzigen 8-Quadratmeter-Zimmer und zog quasi bei ihr ein. „Uns war früh klar, dass wir zusammengehören“, sagt Dario. „Aber wir haben vermieden, darüber zu reden. Beziehung im Auslandssemester – da ist die Perspektive ja erstmal ungewiss.“
Vier gemeinsame Monate hatten die beiden im spanischen Valencia. Dario, Student der Wirtschaftswissenschaften aus Nürnberg, und Lauren, Jura-Studentin aus Hasselt in Belgien. Picknicken, Party, Kultur, im Bett chillen mit bestelltem Essen und Netflix. Doch irgendwann ist jeder Erasmusaufenthalt mal vorbei. Das Ganze als Episode abzuhaken, kam für beide aber nicht in Frage. Heute ist Fernbeziehung angesagt.
„Das klingt erstmal furchtbar. Und ist manchmal sehr schwer“, so der 21-Jährige. Sehnsucht ist fies. Daher versuchen sie, sich mindestens einmal im Monat zu besuchen, lassen via Whatsapp, Facetime und Instagram den anderen am Alltag teilhaben. Immerhin: Laut einer Studie der Europäischen Union lernen fast 30 Prozent der Erasmus-Studierenden ihre Partnerin oder ihren Partner im Ausland kennen – und schaffen es, aus einem Semesterflirt eine langfristige Beziehung zu machen.
Für ihre Zukunft haben die beide indes noch keinen Masterplan. „Wir sind sehr abenteuerlustig und international“, sagt Lauren. „Vielleicht leben wir irgendwann mal an einem Ort in Europa zusammen.“ Bis dahin wollen sie aber erstmal gemeinsam die Welt bereisen.
Im Mai zur Europawahl zu gehen, ist für sie deshalb vollkommen selbstverständlich. Länderübergreifend studieren zu können und sich besuchen ohne Bürokratie – für Lauren und Dario der Inbegriff von Freiheit. „Und gerade jetzt, wo wir uns gefunden haben, eine Belgierin und ein Deutscher, bedeutet uns ein vereintes Europa besonders viel“, sagt die 23-Jährige.
Europa ist ein Land
Mit dem Zug einmal quer durch Europa – von Lissabon bis Budapest. Diese Erfahrung hat Bárbara im letzten Sommer gemacht. Gemeinsam mit ihrem Freund reiste die Studentin einen Monat per Interrail-Pass. Dabei besuchten die beiden insgesamt 17 Städte in zwölf verschiedenen Ländern. „Das Beste am Interrail ist die Flexibilität. Wir haben unsere Reiseroute immer spontan geplant und konnten doch immer sicher sein, mit dem einen Ticket an unserem Wunschort anzukommen.“ Für die 21-jährige Portugiesin war es die erste Reise ohne ihre Eltern. Und die bisher beste Erfahrung ihres Lebens. „Ich liebe es einfach, unbekannte Orte zu entdecken und alles mit meiner Kamera festzuhalten.“
Auf ihrer Reise übernachteten die beiden im Zug, auf einer Fähre, im Zelt und die meiste Zeit in Hostels. So lernten sie auch viele neue Leute kennen und unterhielten sich mit ihren Zimmernachbarn bis spät in die Nacht über ihre Kulturen. Bárbara findet es wichtig, dass gerade junge Menschen die Möglichkeit haben, zu reisen und unterschiedliche Kulturen und die Lebenswirklichkeiten anderer Menschen kennenzulernen. „Das gehört für mich einfach zur Bildung dazu. Nur so können wir Offenheit, Verständnis und Toleranz für Dinge aufbringen, die uns fremd sind.“ Besonders das unbeschwerte Reisen durch die EU, ohne Visum und andere Dokumente, mache das einfacher. „Es fühlte sich für mich so an, als ob es keine Grenzen gibt und wir uns durch ein großes Land mit unterschiedlichen Städten und Kulturen bewegen würden. Ich glaube jetzt, dass wir trotz vieler Unterschiede einen Teil unserer Identität miteinander teilen: Wir sind alle Europäer.“
Mann der ersten Erasmus-Stunde
Erasmus? Was soll das denn sein? Als Wolfgang Kill 1988 in einem Seminar an der Universität Konstanz saß und der Dozent von einem neuen EU-Austauschprogramm erzählte, hatte er – wie seine Kommilitonen – keinen blassen Schimmer. Er kannte nur den Namenspaten: Erasmus von Rotterdam, ein kosmopolitisch gebildeter Humanist der Renaissance, der sich an vielen Orten Europas zuhause fühlte. Paris, Venedig, Löwen, Cambridge, Basel – überall studierte, arbeitete und lebte er.
„Das hat meine Abenteuerlust geweckt“, sagt Kill. „Ins Ausland gehen, einfach mal was ausprobieren.“ Also meldete sich der Student der Verwaltungswissenschaften an. Damals noch ohne viel Papierkram und Vorlauf. Zwei Monate nach der Zusage ging’s im Januar 1989 holterdipolter los. Damit verließ Kill als einer der ersten deutschen Erasmusstudenten für sechs Monate seine Heimatuni. Das Ziel: passenderweise die Erasmus-Universität Rotterdam.
„Die Zeit war extrem spannend und hat meinen Horizont geweitet“, so der heute 53-Jährige. In seinen Seminaren saßen nun auch Dänen, Belgier und Italiener, im Wohnheim lebte er zusammen mit Amerikanern und Chinesen. Die Partys, die sie dort schmissen – bis heute unvergessen.
Was ist noch geblieben aus der Zeit? Sein gutes Niederländisch und eine tiefe Verbindung zur europäischen Idee. Vor allem auch beruflich. Kill arbeitet heute für das sächsische Wissenschaftsministerium im Bereich „Europa“, war vorher einige Jahre lang auch im Sachsen-Verbindungsbüro in Brüssel. Ein Thema, das nun zu seiner täglichen Arbeit gehört: das Erasmus-Programm, heute Erasmus+.
Mit unseren Smartphones haben wir den Fortschritt in der Hand, möchte man meinen. Aber findet der auch im Kopf statt? Oder macht uns die zunehmende Digitalisierung unseres Lebens doch so sehr Angst, dass wir uns in ein biedermeierisches Social Media-Idyll flüchten?