Achtung: Ansteckungsgefahr!

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Corona macht erfinde-risch

Foto: Pexels/Eric Ananda

Achtung: Ansteckungsgefahr!

Die Corona-Pandemie hat viele Studierende zu neuen Lösungen inspiriert. Sie versuchen, dem Virus und seinen gesellschaftlichen Folgen mit kreativen Projekten zu begegnen. Diese Ideen haben besondere Ansteckungsgefahr.

Als die deutschen Schulen im März schließen mussten, saß Christopher Reiners in seinem Schlafzimmer in Bonn. „Die Vorlesungen waren ausgefallen, ich langweilte mich und telefonierte mit meiner Schwester“, erinnert sich der Mathematik-Student. Seine Schwester musste als zweifache Mutter plötzlich Homeschooling und ihren Job unter einen Hut bringen. So wie ihr erging es vielen Eltern „Ich dachte mir: Da müssen wir was machen!“, so Reiners. Die Idee zur digitalen „Corona School“ war geboren. Der Grundgedanke: Motivierte Studierende aus ganz Deutschland verbinden sich per Video-Chat mit Schüler*innen, um ihnen bei den Hausaufgaben oder der Abiturvorbereitung zu helfen – und so die Eltern zu entlasten.

„Corona School“-Gründer Christopher Reiners

„Corona School“-Gründer Christopher Reiners

Mathe per Videokonferenz

Binnen einer Nacht programmierte der 22-Jährige mit einem befreundeten Informatikstudenten den Prototypen der Vernetzungs-Plattform. Als die Seite in ihren Grundzügen stand, erzählten sie Freund*innen von ihren Plänen, verschickten Rundmails an Fachschaften und machten so ihre Initiative bekannt. Nach nur einer Woche hatten die beiden Gründer insgesamt zehn motivierte Studierende in ihr Organisationsteam geholt, die die Website professionalisierten, didaktische Leitfäden schrieben und einen Algorithmus zum Vernetzen von Studierenden und Schüler*innen entwickelten. Bald trafen sich die ersten Tandems in Videokonferenzen, um das Dividieren zu üben oder den Prozess der Photosynthese erklärt zu bekommen. Mit jeder Woche wurde die „Corona School“ größer: Bis heute hat die kostenlose Plattform über 12.500 registrierte Schüler*innen und über 9.500 registrierte Studierende.

Verantwortung in schwierigen Zeiten

Ähnlich wie Christopher Reiners packte in den letzten Monaten viele junge Leute der Drang, in dieser schwierigen Zeit Verantwortung zu übernehmen. Sie riefen Einkaufshilfe-Initiativen für ältere Menschen ins Leben, programmieren Apps zur Entlastung von Arztpraxen oder helfen im Labor bei der Impfstoffentwicklung. Auch an den Unis entstanden immer mehr Forschungsvorhaben mit Corona-Bezug. So entwickelte eine Studentin von der Hochschule Heilbronn eine Röntgen-Software, die die Covid-19-Diagnose erleichtern soll. In Dänemark erfand eine Studentin eine Maske, die sich durch Metalloxid selbst reinigen kann – auch von Viren. Die Pandemie-Projekte beschränken sich dabei keinesfalls auf den naturwissenschaftlich-medizinischen Bereich. Zwei junge Politikwissenschaftler*innen von der TU München gingen beispielsweise der Frage nach, welche Regierungsmaßnahmen und Gesetze weltweit besonders effizient sind, um die Pandemie zu bekämpfen. Mithilfe von Crowdsourcing riefen sie gemeinsam mit Kolleg*innen die weltweit größte Informationsquelle über staatliche Maßnahmen ins Leben: das „CoronaNet Research Project“.

Tuscheln im virtuellen Hörsaal

Wieder andere Projekte drehen sich um das Thema Kommunikation in Zeiten der Kontaktsperre. Fünf Medieninformatik-Studierende der WH Gelsenkirchen fragten sich etwa: Wie funktioniert informeller Austausch, wenn alle Lehrveranstaltungen nur noch online stattfinden? Also entwickelten sie im Rahmen einer Lehrveranstaltung das Konzept für die App „Whisper“. Die Idee: Studierende loggen sich in einem virtuellen Hörsaal ein. Wie bei einer normalen Vorlesung können sie sodann mit ihren Sitznachbar*innen tuschelnd Kontakt aufnehmen – indem sie Sprachnachrichten über das Handy austauschen. „Bei der Befragung unserer Kommiliton*innen haben wir herausgefunden, dass es ein großes Bedürfnis nach Kommunikation gibt, aber noch keine prickelnde Lösung“, erklärt „Whisper“-Teammitglied Max Schulte. Zwar würden sich die meisten Studierenden in Dutzenden WhatsApp-Gruppen herumtreiben, doch ein Ersatz für den informellen Austausch am Rande von Vorlesungen seien diese nicht.

Til Franzen, Andrea Kipp, Simon Voigt und Max Schulte (links oben nach recht unten) von der Westfälischen Hochschule entwickeln eine App zum Schwatzen in Online-Vorlesungen.

Til Franzen, Andrea Kipp, Simon Voigt und Max Schulte (links oben nach recht unten) von der Westfälischen Hochschule entwickeln eine App zum Schwatzen in Online-Vorlesungen.

Stimme viel nahbarer als Textnachrichten

Der Vorteil der Tuschel-App: Diese bildet den Hörsaal im virtuellen Raum eins zu eins ab. Wer sich zu einer Online-Vorlesung anmeldet, hat automatisch ein bis zwei Sitznachbar*innen. Über die App kann man sich mit diesen dann direkt über Sprachnachrichten austauschen. „Die Stimme ist viel direkter und nahbarer als Textnachrichten oder Emoticons, weil sie viele Emotionen transportiert“, so der 23-Jährige.

Das Konzept ist mittlerweile fertig, genauso wie die Skizzen für die Benutzeroberfläche. Programmiert wurde die Applikation aber noch nicht. „Aktuell sind wir auf der Suche nach Sponsoren, damit wir die App umsetzen können, etwa im Rahmen einer Masterarbeit.“ Die Gruppe ist sich sicher, dass die Lösung auch über den Lockdown interessant sein könnte, etwa für Fernuniversitäten oder Online-Gastvorlesungen. „Sollten die Ansteckungszahlen wieder steigen und Präsenzveranstaltungen nicht mehr möglich sein, ist es gut, eine App in petto zu haben“, sagt Max Schulte.  

Freizeit-AGs von Astronomie bis Zumba

Auch Christopher Reiners will seine Vermittlungs-Plattform „Corona School“ weiter ausbauen. Während der Ferienmonate ergänzte sein Team die Lern-Tandems um sogenannte Sommer-AGs. Studierende, Privatpersonen oder Rentner*innen konnten online Freizeitangebote für die Sommerferien machen – ob ein Webinar zum Blumenkränze basteln oder ein Astronomie-Crashkurs. Reiners selbst leitete die digitale AG „Hollywood zum Selbermachen“ und drehte mit Teenagern einen Loriot-Film. „Es war spannend zu sehen, wie Interaktion im virtuellen Raum gelingen kann.“

In Zukunft will Reiners vermehrt Schüler*innen erreichen, deren Eltern sich Nachhilfe oder Lernunterstützung gar nicht leisten könnten. Um die Plattform weiterzuentwickeln, legt der Mathematikstudent gerade ein Freisemester ein. „Es ist beeindruckend zu sehen, wie ein Projekt, das im Schlafzimmer entstanden ist, plötzlich eine bundesweite Reichweite erzielt.“ Eines der schönsten Erlebnisse: Als bei einem Teamkollegen plötzlich das Handy klingelte – und der Bundespräsident dran war. „Frank-Walter Steinmeier wollte sich einfach mal persönlich für unseren Einsatz bedanken.“