Netzwerken als „stiller“ Mensch: Interview mit Melina Royer
Melina, inwiefern „tickst“ du anders als die „Lauten“, die Extrovertierten?
Ob eine Person introvertiert oder extravertiert ist, hängt damit zusammen, wie das eigene Nervensystem Reize verarbeitet und Energie bezieht: ob durch interne oder externe Stimulation. Ich fühle mich in kleineren Runden oder Einzelgesprächen wohler, dort kann ich besser mit meiner Energie haushalten und mich voll auf mein Gegenüber konzentrieren. Das hat übrigens auch erstmal gar nichts mit Schüchternheit zu tun, die kann nämlich sowohl Introvertierte als auch Extravertierte betreffen.
Einen Unterschied bemerke ich besonders dann, wenn ich mir nach einer Arbeitswoche nichts sehnlicher wünsche als meine Couch, während andere dann erst richtig in Fahrt kommen und als Ausgleich viel unternehmen möchten. In meinen Zwanzigern habe ich mich oft komisch gefühlt, wenn ich als einzige nicht mit in die Bar wollte. Mein Selbstvertrauen war damals nicht so stabil wie heute, darum bin ich oft über meine Grenzen gegangen, um dazuzugehören.
Wie waren die Reaktionen deines Umfelds?
Privat hielt man mich im ersten Moment gelegentlich für unnahbar: „Ich dachte zuerst, du seist total arrogant.“ Das hat mich sehr verunsichert. Wenn Bekannte das schon sagen, wie soll es dann erst im Beruf sein?
Und wie war es?
In unserer Arbeitswelt ist es so: Wer viel redet, hat eine höhere Sichtbarkeit. Das kann für zurückhaltende Menschen sehr frustrierend sein. Wer schweigt und erstmal in Ruhe die Lage analysiert, muss sich leider oft Vorurteile gefallen lassen. Mir fiel es am Anfang sehr schwer, Small Talk mit Kolleg:innen zu machen. Ich habe schon immer etwas länger gebraucht, um mit neuen Menschen warm zu werden.
Als ich jünger war, dachte ich, dass ich es anderen einfach nur nachtun müsse. Networking-Events? Machen doch alle, also muss es gut sein, oder? Nein! Hat für mich gar nicht funktioniert. Ich habe immer wieder neue Wege ausprobiert, wie ich eine gute Verbindung zu anderen aufbauen kann, ohne mich dabei wie eine Schauspielerin zu fühlen.
Welche zum Beispiel?
Statt wortreicher Monologe stelle ich zum Beispiel in Meetings lieber vertiefende Fragen oder gebe konstruktives Feedback. So kann meine Kompetenz zeigen, ohne mich dabei verstellen zu müssen. Meine persönliche Grundregel für echte Verbindungen und Sichtbarkeit lautet: Sei jemand, der anderen das Gefühl gibt, jemand zu sein. Durch echtes Interesse an anderen muss ich mich nicht in den Mittelpunkt stellen und werde trotzdem sichtbar.
Hast du Tipps, wie man sich als introvertierte Person ein berufliches Netzwerk aufbauen kann?
Wenn ich den Gang auf Karrieremessen als Horrorvorstellung empfinde, sollte ich der Blockade auf den Grund gehen: Was erhoffe ich mir? Kann ich dort überhaupt zeigen, was mich ausmacht? Ist ein anderes Setting besser geeignet? Ich kann mich nicht erinnern, jemals auf einer Jobmesse gewesen zu sein. Stattdessen habe ich fleißig in die Tasten gehauen und via E-Mail Kontakt zu den Personen aufgenommen, deren Arbeit ich spannend fand und ihnen Fragen dazu gestellt. Es klappt auch hervorragend, wenn man Freund:innen oder Bekannte bittet, einen Kontakt herzustellen. Andere tun das wirklich gern, denn es zeigt Wertschätzung für ihre Expertise.
Introvertiertheit wird oft als Schwäche angesehen. Inwiefern ist sie eine Stärke?
Ich werde nie vergessen, wie ich vor Jahren bei einem Business Lunch von einem Manager quer über den Tisch gefragt wurde: „Warum so ruhig? Alles ganz schön aufregend, oder?“ Das war das erste Mal, dass ich selbstbewusst gekontert habe, „Nö, alles prima, ich beobachte einfach gern die Dynamik.“ Mein Gegenüber fand meine Antwort super und meinte daraufhin, dass er das viel zu wenig macht. Das war ein echter Schlüsselmoment für mich, weil ich geschnallt habe: Wow, das ist gar kein Makel, sondern eine Stärke. Was für mich selbstverständlich zu meinem Wesen gehört, ist für andere vielleicht gerade die fehlende Ressource.
Warum hast du zusammen mit Timon „Vanilla Mind“ gegründet?
Ich habe Vanilla Mind gegründet, als ich von der Festanstellung in die Selbstständigkeit gewechselt bin. Damals war ich sehr verunsichert und habe mir Sorgen gemacht, ob ich mit meiner zurückhaltenden Art genügend Menschen von meiner Leistung überzeugen kann, um meinen Lebensunterhalt zu sichern. Deshalb haben Timon und ich angefangen, darüber zu schreiben. Innerhalb weniger Monate fand das Thema so viele Anhänger:innen, dass ich sogar im Fernsehen aufgetreten bin.
Mit welchen Fragen und Wünschen kommen denn Menschen zu euren Coachings?
Am häufigsten führen wir Stärkencoachings durch. Fast alle unsere Coachees befinden sich in einem Prozess der Orientierung und möchten lernen, wie sie im Einklang mit ihren Bedürfnissen arbeiten können. Die Stärkenarbeit ist großartig, weil wir hier nicht auf die vermeintlichen Defizite beim Small Talk oder beim selbstsicheren Auftreten schauen. Ich helfe vielmehr dabei, die guten Seiten an sich selbst wahrzunehmen. Davor haben sie sich nur über Abschlüsse und Zertifizierungen definiert und waren gestresst davon, mithalten zu müssen.
Man sollte also – zum Beispiel im Jobinterview – Introvertiertheit gar nicht als „Schwäche“ erwähnen?
Wenn ich das extra erwähnen muss, erwecke ich den Eindruck, dass es womöglich doch etwas Komisches ist. Fast alle unsere Coachees kommen zu uns, weil sie verunsichert sind, ob ihre Fähigkeiten überhaupt wertvoll für andere sind. Ein konkretes Beispiel: Angenommen, ich bin sehr neugierig und wissbegierig. Das ist für zukünftige Arbeitgebende eine enorm wertvolle Ressource. Solche Menschen werden immer bereit sein, auf Wandel zu reagieren und mit Entwicklungen Schritt zu halten. Ich muss sie als Führungskraft nicht extra motivieren, sich in neue Prozesse einzuarbeiten. Eine andere Person ist vielleicht sehr sensibel und nimmt Details in der Umgebung wahr, die anderen entgehen. Das kann ich im Vorstellungsgespräch nutzen, um zu zeigen, dass mir viel daran liegt, zusammen mit meinem Team zu wachsen und eine hohe Qualität anzustreben.
Was müsste sich in der Arbeitswelt endlich ändern, damit introvertierte Menschen besser zurechtkommen?
Ich wünsche mir allgemein mehr Offenheit für unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale. Introversion ist ja nur ein einziges Merkmal aus einer riesigen Vielfalt von Charaktereigenschaften. Hocheffektive Teams benötigen immer einen Mix aus Persönlichkeiten. Ich stelle mir das gern wie ein Puzzle vor: Wären alle Teile gleich, würde das Puzzle nie das schöne Endergebnis erreichen, das wir anstreben. Jedes Teil ist anders und ergänzt sich mit einem anderen. Erst wenn ich die Einzigartigkeit der anderen Person zu schätzen weiß und in einen Dialog trete, können wir gemeinsam etwas Großes erschaffen.
Mein Appell: Stellt einander mehr Fragen! Die Dinge sind selten so, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Unser Gehirn liebt Abkürzungen, aber gerade im täglichen Miteinander führt das oft zu Schubladendenken.
Würdest du dich heute noch immer als introvertiert bezeichnen?
Ich bin so introvertiert wie eh und je. Der Unterschied ist, dass ich fein damit bin. Ich muss heute nicht mehr überall dabei sein und habe auch nicht mehr das Bedürfnis, mich ständig erklären oder gar entschuldigen zu müssen. Introvertiert zu sein, ist das Selbstverständlichste auf der Welt.
STÄRKENCOACHING FÜR FACH- UND FÜHRUNGSKRÄFTE
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