Kolumne: Mut und Demut

proteste im Iran

Foto: samer daboul/pexels.com

Unsere Autorin ist durch Pandemie und Inflation in permanenter Geldnot. Wer ihr hilft, trotzdem optimistisch zu bleiben: Die Studierenden im Iran, die gerade für ein Leben kämpfen, das für sie total selbstverständlich ist.

Vor ein paar Wochen kam er, der gefürchtete A4-Umschlag. Meine Hände zitterten, als ich ihn aus dem Briefkasten fischte und hoch in die WG trug. „Krisensitzung!“, rief ich im Flur und mixte mir und meiner Mitbewohnerin fix einen Gin Tonic. Wenn schon schlechte Nachrichten, dann aber bitte mit leicht einem sitzen. „Ok, ich mach’s jetzt“, sagte sie nach zwei kräftigen Schlucken, riss das Ding auf und fand zwischen „Liebe Frau Schneider“ und „Herzliche Grüße, Ihr Gasversorger“ recht schnell das Wort „Abschlagszahlung“. Diese müsse leider erhöht werden, stand da. Um rund das Doppelte.

Fast drei Jahre läuft es für mich und viele meiner Kommiliton:innen finanziell ziemlich mies. Erst gingen Nebenjobs durch die Pandemie flöten, jetzt machen die Kosten für Wohnen und Lebensmittel den Kontostand platt. Das BAföG reicht nicht. Der Heizkostenzuschuss und die versprochene Einmalzahlung von 200 Euro für Studierende sind zwar eine Hilfe, den Dispo werden all jene ohne begüterte Eltern wohl dennoch ausreizen müssen. Nach der heutigem Hiobsbotschaft lag ich daher mit einem fetten „Ach, alles scheiße“-Gefühl im Bett und scrollte zur Ablenkung durch meine Twitter-Timeline. Und die war in dieser Nacht Anfang Oktober voll von Tweets und Videos, die dokumentierten, was zur selben Zeit rund 4.600 Kilometer entfernt an der Scharif-Universität in Teheran vor sich ging. Sicherheitskräfte verprügelten dort Studierende und Professoren und schossen wahllos in Autos. Szenen wie aus einem Kriegsgebiet.

Seit die junge Kurdin Jina Mahsa Amini aufgrund eines „unislamisch“ getragenen Kopftuchs von der Sittenpolizei verhaftet wurde und im Gewahrsam starb, protestieren die Menschen im Iran auf den Straßen, in Fabriken, Schulen und Universitäten lautstark gegen die repressive Politik des Mullah-Regimes. Zugegeben: Bis vor Kurzem hätte ich das Land in keine stumme Karte einzeichnen können. Null Ahnung auch, was sich Studierende unter Einsatz ihres Lebens dort gerade erkämpfen. Dass es Männern und Frauen erlaubt ist, gemeinsam in der Mensa zu essen zum Beispiel. Dass man mit seinem Freund vor der Ehe Sex haben, spazieren gehen und sich eine Wohnung teilen darf. Dass Frauen die Wahl haben, ob sie ein Kopftuch tragen wollen oder nicht. Dass der Genuss eines Gin Tonics nicht zu Peitschenhieben führt. Oder dass ein Student keine Angst vor der Todesstrafe haben muss, weil er schwul ist.

Natürlich: Es ist mein gutes Recht, verzagt und wütend zu sein, weil mir das Geld im Moment nur so durch die Finger rinnt. Blicke ich auf diese jungen, mutigen Menschen, die nichts weiter wollen, als frei zu leben, empfinde ich jedoch auch etwas, was ich lange nicht mehr gefühlt habe: Demut. Wie privilegiert ich doch bin. Es muss ein besser bezahlter Nebenjob her, denke ich kurz vorm Einschlafen. Vielleicht helfen Oma und Opa nochmal aus. Etwas länger studieren? Ja, dann ist es halt so. Es wird schon irgendwie gehen.