Wir Pioniere der Prokrastination
Wir Pioniere der Prokrastination
Unser Kolumnist hat in seinem Leben schon so ziemlich alles aufgeschoben: Essays, Hausaufgaben, Abschlussarbeiten. Jetzt endlich begreift er die Freiheit dahinter.
Die ganze Sache mit der Prokrastination dämmerte mir, als ich eines Morgens meinen Mitbewohner viel zu früh in der Küche beim Kaffeekochen sah. Er hatte da noch die Abgabefrist für seine Hausarbeit, sagte er, und müsste jetzt vor seinem Job noch eine Frühschicht einlegen. Gestern hätte er es irgendwie nicht mehr geschafft, sagte er, Wikipedia, YouTube, Bett, ich wisse schon. Natürlich wusste ich. Und ich gebe zu, das Ganze ist gar nicht so lange her. Der Kaffee ist noch warm. Ich selbst war schließlich auch nur so früh wach, um diesen Text hier zu schreiben. Passenderweise über Prokrastination.
Die Aufgaben, die wir haben, sind ja recht überschaubar. Klar, es gibt einen Teil in uns, der die Welt retten will, aber zunächst geht es „nur“ darum, unsere Vorlesungsnotizen zu durchforsten, einen roten Faden für den nächsten Essay zu finden und dabei die imaginierten Stimmen unserer Eltern im Hinterkopf auszublenden: Na, wieder alles auf die letzte Minute? Kommst du eigentlich mit deiner Bachelorarbeit voran? Muss das Gezappe durch die Insta-Stories wirklich sein?
Ehrlicherweise: Ja, das muss sein. Wir genießen unsere Flexibilität, wir flanieren durch die Grenzenlosigkeit des Internets, bevor es sich in einigen Jahren sicherlich wieder fundamental verändern wird. Wir können noch wie die Menschen sein, die in einem Proseminar über Walter Benjamin das Konzept des Flanierens verstanden haben und anschließend beseelt durch die Bochumer Innenstadt spazieren, alle paar Schritte ihr Lederbüchlein zücken und kleine Alltagsbeobachtung aufs handgeschöpfte Papier kritzeln.
Wir sind eine Generation von Prokrastinateuren, wir machen nichts anderes, nur eben in der digitalen Fußgängerzone. Wir starten unsere Hausarbeitsrecherche auf der Seite der Uni-Bibliothek, der Name eines Buchs inspiriert uns dazu, einen infantilen Witz auf Twitter zu reißen, die Likes versorgen uns mit einer kleinen Ladung Dopamin und schließlich landen wir zufrieden bei einer 90-Minuten-Dokumentation über die unterschätzte Kulturgeschichte des Plumpsklos.
Der rote Faden kann in solchen Momenten erstmal liegen bleiben und das ist auch gut so. Lieber flanieren wir über die Datenautobahn, bestaunen die kruden Dinge am Wegesrand und stolpern gerade noch rechtzeitig über die Deadline. Und was spricht schon gegen die letzte Minute?
Wenn ich das nächste Mal meinen Mitbewohner beim Kaffeekochen sehe, dann habe ich wenigstens eine gute Nachricht für ihn: Wir sind zwar übernächtigt, gestresst und oft am Anschlag. Aber als Pioniere der Prokrastination sollten wir uns gegenseitig auf die Schulter klopfen.